Gastbeitrag: Europa auf dem Weg zum Zweiklassenbildungssystem

Europa auf dem Weg zum Zweiklassenbildungssystem
 
Von Europaabgeordneten Hannes Heide
Mitglied im Ausschuss für Kultur und Bildung
 
In Österreich und vielen europäischen Ländern droht das Schulsystem gegen die Wand zu fahren. Der Mangel an qualifizierten Lehrkräften macht oft nur einen Notbetrieb möglich. Die Bildungsschere droht seit der Pandemie immer weiter auseinanderzuklaffen. Es ist Zeit für echte Reformen und die Förderung der Chancengleichheit in der Schule.
 
Allen Kindern gleiche Chancen für die Zukunft zu ermöglichen ist zweifellos eine der größten Herausforderungen für das Bildungssystem und die Bildungspolitik. In ihrer derzeitigen Form kann die Schule das allerdings nicht leisten. Zu große Klassen, Schwierigkeiten bei der Rekrutierung qualifizierter Lehrkräfte, überkomplizierte Bürokratie und eine immer größere soziale Kluft bei den Kindern und Jugendlichen – das sind Probleme, die ich bei Gesprächen mit SchulleiterInnen und LehrerInnen immer wieder höre.
 
Flucht in Privatschulen
 
Schule ist nicht gleich Schule, es scheint tief in der ständischen Struktur unseres Landes verankert, dass zumindest ein Teil der Gesellschaft will, dass das Gymnasium eher den höheren und die Mittelschule eher den niederen gesellschaftlichen Schichten vorbehalten ist und bleibt. So haben Privatschulen regen Zulauf: Österreichweit besucht mittlerweile jeder zehnte Schüler eine Privatschule, das Schulgeld schafft hier eine Hürde für Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien. Die OECD kritisiert seit Jahren die zu geringe Durchmischung an den Schulen. Der Bildungsaufstieg in Richtung Hochschulabschluss gelingt in Österreich nur selten. Es besteht großer Reformbedarf um den starken Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler zu mindern.
 
Mittelschule findet schwer Lehrkräfte
 
Integration ist mit dem Status quo kaum möglich und die Mittelschulen drohen zu sozialen Brennpunkten zu werden. Das Problem wächst sich mittlerweile soweit aus, dass es vielerorts unpopulär ist Lehrkraft in der Mittelschule zu sein und angehende Lehrerinnen und Lehrer eine Stelle in der Mittelschule nur als Durchgangsposten annehmen. Die Trennung von Kindern nach Herkunft, sozialem Status und Bildungsgrad der Eltern gehtleider nach dem Unterricht weiter. Um das Entstehen von Gettos und Parallelgesellschaften zu durchbrechen, ist gerechte Stadtteilentwicklung und umfassende Konzepte zur Familienbegleitung nötig.
 
Verschlimmerung nach Pandemie
 
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die langen Schulschließungen während der Pandemie zu starken Defiziten geführt haben und in der Nachbetrachtung ein Fehler waren.Die eigentliche Chancengleichheit, durch frei zugängliche digitale Inhalte, hat auch beim Fernunterricht in eine Zweiklassengesellschaft der Bildung umgeschlagen. Denn sowohl bei der technischen Ausstattung, den Kompetenzen und dem Engagement für Heimunterricht herrschten gravierende Unterschiede in den Familien. Auf europäischer Ebene ist dabei eine digitale Spaltung mit Nord-Süd-Gefälle erkennbar.
 
Lösungsansätze für Eltern und Politik
 
Um einen Kontrapunkt zu setzen, gibt es interessante Ideen in den europäischen Mitgliedstaaten. In den Niederlanden, wo sich die Eltern als wesentliche MitgestalterInnen der Schule verstehen, versuchen engagierte Elterngruppen durch die bewusste Entscheidung, ihre befreundeten Kinder in eine nahe gelegene Schule zu schicken, die von der Mittelschichtsflucht betroffen ist, die soziale Kluft zu überwinden. Auch bei der Mittelverteilung an die Schulen sollte verstärkt Integrationsbedarf in höherem Ausmaß berücksichtigt werden. Diese Investitionen sind für unsere Gesellschaft von unschätzbarem Wert. Heranwachsende dürfen nicht in die Perspektivlosigkeit entlassen werden. Das Zurücklassen von Kindern und Jugendlichen gefährdet unsere Demokratie. 
 
Initiativen der Europäischen Union
 
Bildungspolitik ist leider nach wie vor eine nationale Angelegenheit, in Österreich als föderalem Bundesstaat spielen auch die Bundesländer eine entscheidende Rolle. Die Europäische Union kann daher auf Bildungssysteme und Lehrpläne der Mitgliedstaaten nur indirekten Einfluss üben. Mit der Förderung von Schulprojekten und lokaler Initiativen. Das größte europäische Bildungsprogramm Erasmus+ beinhaltet nicht nur den Schüleraustausch, sondern auch Bildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrerund seit 2021 verstärkt Austauschmöglichkeiten für Lehrlinge und junge Menschen in Berufsausbildung. Die Erasmus+ Lehrkräfteakademien etwa sollen die Qualität in der Erstausbildung verbessern und die Attraktivität des Lehrberufs erhöhen. Dabei werden innovative Verfahren zur digitalen Bildung, zu Nachhaltigkeit und Integration entwickelt. Es gibt Module für Lehrkräfte in allen Phasen ihrer Laufbahn.Wichtig ist die rasche Umsetzung eines Europäischen Bildungsraumes mit gegenseitiger automatischer Anerkennung von Abschlüssen. Allerdings ist die bis 2025 geplante Umsetzung mehr als gefährdet, da die Mitgliedstaaten im Rat auf der Bremse stehen.
 
Desinteresse der Regierung
 
Langfristig ist die Frage nach Chancengleichheit im Schulsystem auch eine von verantwortungsvollen Entscheidungen in den Gemeinden und Städten, von Schulneubauten und Wohnungspolitik. Leider scheint das österreichische Schulsystem reformresistent zu sein, es gibt derzeit keine Bildungspolitik. Die ideologische Unbeweglichkeit der Regierungsparteien wirft die Frage auf ob, in Hinblick auf die von der ÖVP umworbene rechtskonservative Wählerschicht, vielleicht gar kein ehrliches Interesse besteht, die seit Jahrzehnten einzementierte Ideologien und Strukturen zu verändern.